Neue Grenzwerte für THC im Straßenverkehr lassen viele Fragen offen

Gut drei Monate nach der Teil-Legalisierung haben Bundestag und Bundesrat eine Anpassung der https://www.arbeitsgemeinschaft-cannabis-medizin.de/2024/05/20/acm-mitteilungen-vom-18-mai-2024/#1 Straßenverkehrsordnung (StVO) an die neue Gesetzeslage beschlossen. Doch die Expert:innenkommission zur Grenzwertfindung zeigt sich enttäuscht: ihre zahlreichen Vorschläge wurden nur teilweise berücksichtigt. Wie ist nun die aktuelle Lage?

Anfang Juni haben Bundestag und Bundesrat eine Anpassung der StVO an die neue Gesetzeslage beschlossen. Der bisherige Grenzwert von 1 Nanogramm (ng) THC pro Milliliter Blutserum wurde durch den neuen Grenzwert von 3,5 ng THC pro Milliliter Blutserum ersetzt. Für Heranwachsende unter 21 gilt mit Inkrafttreten der Reform “Zero Tolerance”, also ein Grenzwert von 0,0 ng. Nachdem der Bundestag der Änderung am 5. Juli zugestimmt hatte, werden die neuen Grenzwerte voraussichtlich im Spätsommer in Kraft treten. Bis dahin gilt für Verkehrsteilnehmende der alte Grenzwert von 1 ng/ml Blutserum. Doch während die Koalition die neue Regelung als Erfolg verbucht, ist die von der Regierung beauftragte “interdisziplinäre Expertengruppe” zur Grenzwertfindung ob des Ergebnisses enttäuscht. Denn von den zahlreichen Anregungen und Vorschlägen der siebenköpfigen Gruppe schaffte es nur ein Bruchteil in den mittlerweile verabschiedeten Gesetzentwurf.

Expert:innengruppe ist mit dem Ergebnis unzufrieden
Zwar sei der neue Grenzwert von 3,5 ng auch Teil ihres Vorschlags gewesen, aber nicht das zentrale Element: „Im Detail geht es darum, dass der Grenzwert eigentlich nicht das zentrale Element des Vorschlags gewesen ist, sondern ein Speichelvortest. Dabei ging es um eine Anlage, eine kurze Version der Langfassung sowie den Text im niederländischen Gesetz, in dem dieser Vortest verankert ist. Mit dem Vortest werden falsch Positive aussortiert. Man kann dann 5 oder 20 ng/ml THC Blutserum haben und gilt trotzdem als fahrsicher, wenn der Speicheltest negativ ist und anzeigt, dass beispielsweise 6-8 Stunden vorher kein Cannabis konsumiert worden ist, je nach Empfindlichkeit des Testes“, erklärt Kommissionsmitglied Dr. Franjo Grotenhermen.

Der Gesetzgeber hat anscheinend den niedrigsten Wert aus dem 12-seitigen Gutachten herausgefischt, um ihn als neue, allgemeingültige Obergrenze zu definieren. Dabei ist das ursprüngliche Ziel, Cannabis und Alkohol im Rahmen der Straßenverkehrs- sowie der Fahrerlaubnisverordnung gleichzustellen, aus dem Fokus geraten: Der jetzt festgelegte Grenzwert von 3,5ng entspricht laut der Expert:innenkommission ungefähr einem Blutalkoholwert von 0,2 Promille. Wer also mit mehr als 3,5 ng THC/ml Blutserum oder mit über 0,5 Promille fährt, bewegt sich bis zu einem Wert von 1,1 Promille im Bereich einer Ordnungswidrigkeit. Für eine Ordnungswidrigkeit gibt es beim ersten Vergehen auch keine Aufforderung zur Medizinisch-Psychologischen Untersuchung (MPU), im Volksmund auch als Idiotentest bekannt. Trotzdem ist eine solche Drogenfahrt nicht gerade folgenlos, weil man dafür 500 Euro Geldbuße, zwei Punkte in Flensburg sowie einen Monat Fahrverbot erhält. Mischkonsum ist per se untersagt. Wer mit Alkohol und THC im Blut erwischt wird, begeht –  abhängig von den Blutwerten – eine Ordnungswidrigkeit oder sogar eine Straftat.

Die MPU bleibt ein cannaphobes Damokles-Schwert
Doch während bei einer Alkoholfahrt keine weiteren Konsequenzen drohen, können Cannabiskonsumierende – dank einer verklausulierten Formulierung im neuen Gesetz – weiterhin eine Vorladung zur MPU erhalten und dadurch den Führerschein auf unbestimmte Zeit verlieren. Eine MPU kann immer noch angeordnet werden, wenn:„[…] ein Cannabiskonsum mit nicht fernliegender, verkehrssicherheitsrelevanter Wirkung beim Führen eines Fahrzeugs vorliegt.“ Vor der Reform stand dort: „[…] das Führen von Fahrzeugen und ein die Fahrsicherheit betreffender Cannabiskonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden können.“

Die neue Rechtslage, wer aus welchen Gründen zur MPU muss, ist bei Cannabis weiterhin ähnlich unscharf wie die alte. Es liegt demnach weiterhin im Ermessen der kontrollierenden Beamt:innen und der Führerscheinbehörden, ob neben der Ordnungsbuße für die einmalige Rauschfahrt weiteres Ungemach in Form eines Idiotentests droht. Das ist, als ob Verkehrsteilnehmende ab einem Wert von 0,2 Promille eine Vorladung zur MPU befürchten müssten. Die Erhöhung auf 3,5 ng war überfällig und in der Koalition unumstritten, allerdings können nicht bekiffte Fahrer:innen aufgrund des fehlenden Speicheltests und der zuvor erwähnten „MPU-Klausel“ weiterhin die Fahrerlaubnis verlieren. Einen zur Vermeidung dieses Szenarios von der interdisziplinären Expert:innengruppe empfohlenen Speichelvortests hatten die SPD-Vertreter:innen im Verkehrsausschuss abgelehnt, während Grüne und FDP dem Vorschlag durchaus offen gegenüber gestanden hatten.

Grenzwertbestimmung komplizierter als bei Alkohol
In ihrem Gutachten haben die Expert:innen festgestellt, dass Cannabis, anders als Alkohol, nicht linear abgebaut wird. Das wiederum hat der zuständige Ausschuss beim Ausarbeiten des Gesetzentwurfs zum Anlass genommen, sich lediglich mit den niedrigsten aller im Gutachten erwähnten THC-Werte zu befassen, um diesen zum allgemein gültigen Grenzwert zu erklären. Ein Blick in das Papier offenbart jedoch, dass die Expert:innen zwar auf das im Vergleich mit Alkohol komplexere Abbauverhalten von THC hinweisen, jedoch andere Lösungen hierfür fordern und auch vorschlagen. Dabei geht es nicht um den bereits erwähnten Speichelvortest, der bekiffte und unbekiffte Fahrer:innen wie in den Niederlanden innerhalb weniger Sekunden voneinander trennt.

Es geht aber auch darum, Begriffe wie relative Fahruntüchtigkeit, absolute Fahruntüchtigkeit, die Abgrenzung zur Straftat sowie einen Wert, der 0,5 Promille Blutalkohol entspricht, zu benennen. Denn die Expert:innengruppe hatte sich über all solche Details bereits im Vorfeld Gedanken gemacht und einen Vorschlag, der all das berücksichtigt, für das Parlament  ausgearbeitet. So findet man in dem Papier, dass 0,5 Promille ungefähr einem Wert von sieben Nanogram entsprechen. Beim Spurhalten sind es sogar 10 ng THC, die einer Beeinflussung von 0,5 Promille entsprechen. Wer mit 13,8-18,4 ng unterwegs ist, hat laut der Expert:innen ähnliche Beeinträchtigungen wie eine Person mit 0,8 Promille. Der Deutsche Anwalt Verein (DAV) forderte als Pendant zu den 0,5 Promille aufgrund dieser Erkenntnisse einen abgestuften Grenzwert von 4-16 ng THC.

„Wissen­schaftliche Studien belegen, dass erst ab einem THC-Wert von 2 – 4 ng/ml überhaupt von einer Beeinträch­tigung gesprochen werden kann und zudem eine der Promil­le­grenze von 0,5 Promille vergleichbare Größen­ordnung von 4 – 16 ng/ml vorliegen müsste”, so Rechts­anwalt Andreas Krämer von der DAV-Arbeits­ge­mein­schaft Verkehrsrecht in einer Pressemeldung. Folgt man den Ausführungen der sieben Expert:innen zu den Werten eines in den Niederlanden seit Jahren erfolgreich eingesetzten Speichelvortests, scheint die Forderung des DAV näher an der Kommission zu sein als das reformierte Gesetz. Allerdings wurde die Expert:innengruppe nicht vom DAV, sondern vom Verkehrsministerium beauftragt.

Vier gegen einen? 0,3; 0,5; 1,1 und 1,6 Promille vs 3,5 ng
Zwar gilt bei Alkohol grundsätzlich die 0,5 Promille-Grenze, aber trotzdem unterteilt die Rechtsprechung hier ein wenig genauer:

  • Wer über einem Alkoholgehalt von 0,3 Promille (unter 21 Jahre: 0,0 Promille) liegt oder aufgrund von Fahrfehlern in einen Unfall verwickelt wird oder andere Ausfallerscheinungen (z.B. Schlangenlinien) zeigt, begeht eine Ordnungswidrigkeit aufgrund seiner relativen Fahruntüchtigkeit. 

  • Wer mit einem Alkoholgehalt zwischen 0,5 und 1,09 Promille Auto fährt, begeht aufgrund von relativer Fahruntüchtigkeit eine Ordnungswidrigkeit. Eine Buße aufgrund von relativer Fahruntüchtigkeit zieht keine MPU nach sich.

  • Wer mit einem Alkoholgehalt von über 1,1 Promille unterwegs ist, gilt als absolut fahruntüchtig und begeht eine Straftat. Hier können neben der ohnehin fälligen Ordnungsbuße Strafmaßnahmen wie zum Beispiel ein Strafbefehl verhängt werden. Zudem kann es auf Geheiß der Fahrerlaubnisbehörde eine Vorladung zur MPU geben, sofern die Akte ein mangelndes Trennungsvermögen zwischen Konsum und Verkehrsteilnahme oder gar einen Alkoholmissbrauch nahe legt.

  • Wer mit 1,6 Promille hinterm Steuer erwischt wird, begeht eine Straftat. Eine MPU ist hier gesetzlich vorgeschrieben.

  • Wer mit > 3,5 ng THC im Blut erwischt wird, weiß mit Ausnahme der zuvor erwähnten Ordnungsbuße nicht, in welche der vielen vorab genannten Kategorien er fallen wird. Das hängt einzig und allein vom Polizeiprotokoll und der Einschätzung eines/einer Verwaltungsbeamten bzw. -beamtin ab.

Da der Gesetzgeber auf eine Definition dieser juristisch sowie versicherungstechnisch wichtigen Werte bei Cannabis verzichtet hat, werden sich Gerichte in naher Zukunft damit beschäftigen müssen, welche THC-Grenzwerte neben den 3,5 ng zukünftig definiert werden müssen, um eine Rechtsgleichheit mit Alkoholfahrten sicherzustellen. Insbesondere die fehlende Definition der relativen und der absoluten Fahruntüchtigkeit bei Cannabis ist problematisch. Erst wenn Gerichte über das Thema entscheiden sollen, werden die Vorschläge der interdisziplinären Expert:innengruppe Gehör finden.

Die Expertinnengruppe hat ein Jahr gearbeitet und dem Parlament dabei auch sehr differenzierte Vorschläge zur Lösung der zuvor erwähnten Probleme und Hindernisse bei der Umsetzung unterbreitet. Leider hat es ein großer Teil dieser Ideen nicht ins Gesetz geschafft. Also werden Richterinnen und Richter wieder einmal geraderücken müssen, was ein Gesetzgeber mit ein paar Federstrichen umsetzen könnte – sofern der politische Wille vorhanden ist.

Angst vor hohen Zahlen?
Vielleicht hat auch die Angst vor zu hohen Zahlen eine Übernahme der Vorschläge verhindert? Denn das von der Kommission vorgeschlagene Vorgehen hätte Deutschland, insbesondere beim Speichelvortest, im internationalen Vergleich relativ hohe Grenzwerte beschert. Da schon die Grenzwerterhöhung auf 3,5 ng innerhalb der Ampel, insbesondere der SPD-Fraktion, ohnehin umstritten war, war eine Übernahme gut vorbereiteter Expertise politisch nicht durchsetzbar. Um sich nicht vorwerfen zu lassen, man habe die Expert:innen ignoriert, beruft sich das neue Gesetz zwar auf deren Einschätzung, lässt aber viele ihrer Vorschläge einfach weg. Frei nach dem Motto: ich esse nur, was mir schmeckt, der Rest geht zurück.

Da bei Cannabis lediglich ein Wert definiert wurde, bei dem nicht einmal ganz klar ist, wie Gerichte dessen Überschreitung in Zukunft bewerten, müssen Autofahrende wohl noch eine ganze Weile warten, bevor eine ähnlich sichere und genau durchdeklinierte Rechtslage wie bei Alkohol herrscht.

Und was gilt für Patient:innen?
Für Cannabis-Patient:innen ist die Reform nicht relevant. Aber sie können sich trotz einer positiven Stellungnahme der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) ihres Führerscheins nicht sicher sein. Eigentlich gilt für medizinisches Cannabis genau das Gleiche wie für  verschreibungspflichtige Betäubungsmittel. Denn weder vom Arzt verordnetes Tilidin, Ritalin noch Critical Kush aus der Apotheke schließen die Fahreignung per se aus. Hier gilt:

  • Die Einnahme (Dosis und Einnahmeform) muss genau der Verordnung entsprechen
  • Eine Verkehrsteilnahme findet nur in Absprache mit dem behandelnden Arzt statt
  • Bei einer Neuverordnung sollte das Auto so lange stehen bleiben, bis sich eine Toleranz aufgebaut hat. Zu diesem Zwecke wird das Medikament während der sogenannten Einschleichphase langsam immer höher dosiert. Ist der Patient oder die Patientin so auf die schlussendlich notwendige Dosis eingestellt, treten starke Nebenwirkungen eher selten auf.
  • Treten nach der Einschleichphase keine Ausfallerscheinungen oder andere Einschränkungen auf, darf man nach Absprache mit der/dem behandelten Ärztin oder Arzt wieder Auto fahren

Natürlich ist hier, wie bei allen anderen verschreibungsfähigen Medikamenten auch, ein Missbrauch nicht vollends auszuschließen. Den gibt es aber auch bei den legalen Varianten von Speed (Amphetamine), Opiaten und Opioiden.


Quellenverzeichnis:

Das neue Gesetz im Wortlaut:
Bundesrat, (2024, Juli 05). Sechsundfünfzigste Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften  https://www.bundesrat.de/SharedDocs/drucksachen/2024/0301-0400/321-24(B).pdf?__blob=publicationFile&v=1 

Das Papier der Kommission (“Expertengruppe):
Prof. Dr. med. Backmund, M. et al., (2024, März). Empfehlungen der interdisziplinären Expertengruppe für die Festlegung eines THC-Grenzwertes im Straßenverkehr (§ 24a Straßenverkehrsgesetz) 
https://bmdv.bund.de/SharedDocs/DE/Anlage/K/cannabis-expertengruppe-langfassung.pdf?__blob=publicationFile

Ein Jahr Arbeitsgruppe:
Suliak, H., (2023, Juni 22). Wissing gründet Arbeitskreis. Legal Tribune Online. https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/cannabis-grenzwert-thc-anhebung-wissing-bmdv-arbeitsgruppe-legalisierung/

Die SPD blockiert:
Micha, (2024, Mai 30). Nicht bekifft und trotzdem MPU? Die Ampel ignoriert ihre eigenen Experten! [Video]. YouTube.
https://www.youtube.com/watch?v=qZXWERylj4Y&t=14s

Anwaltverein fordert 4-16 ng:
Deutscher Anwalt Verein, (2022, August 17). PM VGT 2/22: Verkehrs­rechts­anwälte: Nur berauschte Fahrer krimina­li­sieren.
https://anwaltverein.de/de/newsroom/pm-vgt-2-22-verkehrsrechtsanwaelte-nur-berauschte-fahrer-kriminalisieren     

Absolute und relative Fahruntüchtigkeit:
ADAC, (2024, Februar 21). Alkohol am Steuer: Strafen und Promillegrenze im Auto. https://www.adac.de/verkehr/recht/verkehrsvorschriften-deutschland/promillegrenze-auto/

Studie zum vorgeschlagenen Speichelvortest:
Robertson, M.B. et al., (2022, Mai 16).  Correlation between oral fluid and blood THC concentration: A systematic review and discussion of policy implications.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/35640367/

Stellungnahme BASt zu med. Cannabis:
Dr. Knoche, A., (2014, Januar 15). Straßenverkehrssicherheitsforschung. https://old.cannabis-med.org/german/fuehrerschein_bast_2014


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