Lange war Cannabis vor allem eines: verboten. Doch mit der medizinischen Nutzung der Pflanze hat sich der Blick auf ihren Wirkstoffkosmos verändert. Heute gilt Cannabis als ernstzunehmende Option in der Schmerztherapie, bei neurologischen Erkrankungen oder Übelkeit infolge von Chemotherapie. Doch was weiß die Wissenschaft wirklich über die Wirkung – und welche Nebenwirkungen sind möglich? Der folgende Artikel gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung, den medizinischen Einsatz in Deutschland und das therapeutische Potenzial der Cannabispflanze.
Aufgrund der jahrelangen Prohibition sind die Forschungen zum Thema Cannabis derzeit noch sehr lückenhaft. Viele der in den Studien gemachten Beobachtungen lassen sich noch nicht verallgemeinern. Das Fehlen endgültiger Beweise ist jedoch kein Beweis dafür, dass es die beobachteten Effekte nicht gibt.
Gerade im Bereich des medizinischen Cannabis nimmt die Anzahl der Forschungsarbeiten zu. Jedoch ist die Qualität der Studien oftmals nicht ausreichend, um eindeutige Erkenntnisse zur Wirksamkeit zu liefern. Trotz der teilweise unzureichenden Studienlage ist medizinisches Cannabis in Deutschland seit 2017 verordnungs- und erstattungsfähig. Seit der Teil-Legalisierung von Cannabis in 2024 kann Cannabis sogar auf einem normalen Rezept verschrieben werden. Ein Betäubungsmittelrezept ist nicht mehr notwendig.
Wie kann es sein, dass eine einzelne Pflanze auf so viele unterschiedliche Bereiche des Körpers Einfluss nimmt – vom Schmerzempfinden über die Stimmung bis hin zur Verdauung? Die Antwort liegt in einem biologischen Netzwerk, das lange Zeit im Schatten der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit stand: dem Endocannabinoidsystem (ECS).
Das Endocannabinoidsystem ist ein komplexes Regulationssystem, das in nahezu allen Bereichen des menschlichen Körpers aktiv ist – gewissermaßen ein unsichtbares Steuerorgan für das Gleichgewicht körperlicher und psychischer Prozesse. Es wurde erst in den 1990er Jahren entdeckt, im Zuge der Forschung an den Wirkmechanismen von THC, dem bekanntesten psychoaktiven Inhaltsstoff der Cannabispflanze. Seine Existenz erklärt, warum Cannabis so vielseitige Wirkungen entfalten kann – sowohl heilende als auch potenziell unerwünschte.
Das ECS besteht im Wesentlichen aus drei Komponenten:
Diese drei Bausteine arbeiten eng zusammen, um eine Vielzahl biologischer Funktionen zu modulieren – je nach Bedarf. Denn das Endocannabinoidsystem greift nicht wie ein zentraler Schalter aktiv in Prozesse ein, sondern feinjustiert sie: Es bremst dort, wo zu viel geschieht, und fördert dort, wo zu wenig passiert. In der Fachsprache wird dieser Mechanismus als homöostatische Regulation bezeichnet – ein System der inneren Balance.
Da Cannabinoid-Rezeptoren im gesamten Organismus verteilt sind, kann das ECS nahezu überall wirksam werden. CB1-Rezeptoren finden sich vor allem im zentralen Nervensystem – im Gehirn, Rückenmark und peripheren Nervenbahnen. Dort können sie unter anderem Schmerzempfinden, Stimmung, Angst, Schlaf, Appetit und Gedächtnis beeinflussen. CB2-Rezeptoren hingegen sitzen überwiegend auf Zellen des Immunsystems und regulieren Entzündungsprozesse, Immunreaktionen und den Zellschutz.
Durch die Wechselwirkung mit diesen Rezeptoren könnten pflanzliche Cannabinoide wie THC und CBD verschiedene Effekte entfalten – je nach Dosis, Darreichungsform und individueller Reaktion:
Da überall im menschlichen Körper Bestandteile des Endocannabinoidsystems zu finden sind, gibt es für Medizinal-Cannabis auch ein breites Spektrum möglicher therapeutischer Anwendungen.
In einer Übersichtsarbeit [2] aus dem Jahr 2015 wurden Ergebnisse hinsichtlich des medizinischen Nutzens von Cannabinoiden gesammelt, zusammengeführt und ausgewertet. Dabei gab es Hinweise mäßiger Qualität, die darauf hindeuten, dass sich medizinischer Cannabis in der Behandlung folgender Erkrankungen beziehungsweise Symptome als vorteilhaft erweisen kann:
Des Weiteren gab es Hinweise von geringer Qualität für positive Effekte bei der Therapie von:
Seit 2017 können Cannabisarzneimittel in Deutschland von einem Arzt oder einer Ärztin verschrieben werden. Es ist jedoch gesetzlich geregelt, dass ein Therapieversuch nur unter gewissen Voraussetzungen erfolgen darf.
Zum einen muss es sich um eine Erkrankung oder ein Symptom handeln, das als „schwerwiegend“ eingestuft wird. Des Weiteren ist eine Verschreibung dann möglich, wenn Standardtherapien nicht zur Verfügung stehen oder aufgrund von zu starken Nebenwirkungen, Unverträglichkeiten & Co. nicht angewendet werden können. Darüber hinaus sollte durch den Einsatz von Cannabis eine positive Wirkung auf den Krankheitsverlauf erwartbar sein.
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann ein Rezept für Cannabis ausgestellt und in der Apotheke eingelöst werden. Mittlerweile stehen den Patient:innen mehr als 200 verschiedene Cannabis-Kultivare zur Verfügung, die in der Apotheke als Cannabisblüten erhältlich sind – dazu noch Extrakte und Fertigarzneimittel.
Medizinisches Cannabis wurde 2017 nicht nur verordnungsfähig, sondern auch erstattungsfähig. Das bedeutet, die Patient:innen können bei ihrer Krankenkasse einen Antrag auf Kostenübernahme stellen. Sollte dies jedoch nicht der Fall sein, besteht die Möglichkeit, sich Cannabis auf Privatrezept verordnen zu lassen – die Kosten sind dann jedoch selbst zu tragen.
Wurden die Kosten der Cannabistherapie von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen, war bis März 2022 die anonyme Teilnahme an der Begleiterhebung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) verpflichtend.
Die Begleiterhebung sollte eine bessere Datenlage im Hinblick auf den Einsatz und die Wirksamkeit von medizinischem Cannabis schaffen. Die abschließende Auswertung der BfArM [3] ergab, dass Cannabis zwischen April 2017 und März 2022 zur Behandlung der folgenden Erkrankungen und Beschwerden eingesetzt wurde:
Erkrankung bzw. Symptomatik | Fallzahl (insgesamt 16.809) | Prozentualer Anteil |
Schmerz | 12.842 | 76,4 % |
Neubildung (Tumor) | 2.434 | 14,5 % |
Spastik | 1.607 | 9,6 % |
Multiple Sklerose | 989 | 5,9 % |
Anorexie/Wasting | 852 | 5,1 % |
Depression | 471 | 2,8 % |
Übelkeit/Erbrechen | 376 | 2,2 % |
Migräne | 332 | 2,0 % |
Appetitmangel/Inappetenz | 198 | 1,2 % |
Entzündliche Darmkrankheit | 182 | 1,1 % |
Restless-Legs-Syndrom | 165 | 1,0 % |
ADHS | 163 | 1,0 % |
Epilepsie | 157 | 0,9 % |
Insomnie/Schlafstörung | 150 | 0,9 % |
Tic-Störung/Tourette-Syndrom | 105 | 0,6 % |
Cluster-Kopfschmerzen | 99 | 0,6 % |
Die Wirkungsweise von cannabisbasierten Arzneimitteln kann von Person zu Person stark variieren. Allgemein gelten die Cannabinoide als vergleichsweise sicher und nebenwirkungsarm. Über lebensbedrohliche Komplikationen und Todesfälle im Zusammenhang mit dem Einsatz von medizinischem Cannabis ist bisher nichts bekannt. [1]
Nebenwirkungen treten zwar gehäuft auf, sind aber in der Regel nur vorübergehend und nicht schwerwiegend. Wie bei vielen psychotropen Mitteln treten die unerwünschten Wirkungen dosisabhängig auf. Daher sollte bei der Behandlung mit Cannabis zunächst mit einer geringen Dosierung begonnen werden, sodass Patient:innen von der Wirkung profitieren, aber möglichst wenig von den Nebenwirkungen betroffen sind.
Von April 2017 bis März 2022 sammelte das BfArM in seiner Begleiterhebung [3] rund 16.800 Datensätze und wertete unter anderem die beobachteten Nebenwirkungen aus. Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehörten:
Über die Schwere der Nebenwirkungen werden in der Begleiterhebung keine Angaben gemacht. Da die Nebenwirkungen aber nur selten zum Therapieabbruch geführt haben, ist von weniger schwerwiegenden Nebenwirkungen auszugehen. Dennoch darf laut BfArM das Auftreten psychotischer Nebenwirkungen nicht unterschätzt werden. So kann es beispielsweise zu Halluzinationen (0,7 %), Sinnestäuschungen (0,6 %), Wahnvorstellungen (0,4 %) und zur Dissoziation (0,2 %) kommen.
Neben den klassischen Nebenwirkungen kann die Cannabistherapie auch Auswirkungen haben, die nicht zwingend beeinträchtigend sein müssen – es aber durchaus sein könnten. Daher sollte die sogenannte Vigilanz-Minderung berücksichtigt werden. Dabei handelt es sich um eine Minderung des Reaktionsvermögens und der Aufmerksamkeit. Laut BfArM [3] müsse daher abgewägt werden, ob Patient:innen aufgrund des Nebenwirkungsprofils am Straßenverkehr teilnehmen und Maschinen bedienen können.
Patient:innen mit den folgenden Befunden sollten keine Cannabisarzneimittel anwenden:
Eine vorsichtige und individuelle Bewertung des Arztes beziehungsweise der Ärztin sollte zudem in den folgenden Fällen erfolgen:
Wie bei der Anwendung von Betäubungsmitteln, besteht auch bei Cannabisarzneimitteln die Gefahr, eine Toleranz oder Abhängigkeit zu entwickeln. [1] Im Rahmen der therapeutischen Anwendung ist das Risiko einer Cannabisabhängigkeit vergleichsweise gering. Schließlich wird der Einsatz von medizinischem Cannabis ärztlich begleitet.
Für den therapeutischen Effekt von Cannabis sind insbesondere die Inhaltsstoffe THC und CBD von Bedeutung. Diese entfalten ihre Wirkung auf das körpereigene Endocannabinoidsystem. Die Wirksamkeit von medizinischem Cannabis wurde in vielen Studien untersucht, wobei es zu ersten vielversprechenden Ergebnissen kam. Aktuell gibt es jedoch nur wenig qualitativ hochwertige Studien, sodass deren Aussagekraft noch eingeschränkt ist.
Zu den Anwendungsbereichen von Cannabis gehören unter anderem chronische Schmerzen, Spastizität bei Multipler Sklerose, Übelkeit und Erbrechen aufgrund von Chemotherapie, Appetitanregung bei HIV/AIDS sowie seltene Formen der Epilepsie.
Medizinisches Cannabis wirkt, indem es mit dem körpereigenen Endocannabinoidsystem interagiert – einem biologischen Regulationssystem, das an der Steuerung von Schmerz, Entzündungen, Appetit, Schlaf, Stimmung und weiteren Prozessen beteiligt ist. Die wichtigsten Wirkstoffe, THC und CBD, entfalten dabei unterschiedliche Effekte: THC könnte schmerzlindernd, muskelentspannend und appetitanregend wirken [4, 5, 6], während CBD vor allem potenziell entzündungshemmende und angstlösende Eigenschaften besitzt [7, 8] – ohne psychoaktive Effekte. Welche Wirkung überwiegt, hängt von der Zusammensetzung des Präparats sowie von individuellen Faktoren ab.
Cannabis-Studien zeigten erste vielversprechende Ergebnisse in der Behandlung von Spastizität bei Multipler Sklerose sowie bei der Therapie von chronisch neuropathischen Schmerzen und chronischen Schmerzen im Zusammenhang mit einer Krebserkrankung.
Laut der Begleiterhebung des BfArM sind die häufigsten Nebenwirkungen Müdigkeit (14,9 %), Schwindel (9,8 %), Schläfrigkeit (6,0 %), Übelkeit (4,9 %) und Mundtrockenheit (4,9 %).
Grundsätzlich hat Cannabis ein gewisses Suchtpotential. Dieses ist jedoch vergleichsweise gering, wenn die Einnahme ärztlich begleitet wird. Dennoch besteht ein kleines Restrisiko, eine Toleranz oder Abhängigkeit zu entwickeln.
Ja – aber nicht immer. Ob medizinisches Cannabis berauschend wirkt, hängt vor allem vom Gehalt an THC (Tetrahydrocannabinol) ab – dem psychoaktiven Bestandteil der Cannabispflanze. THC kann in höherer Dosierung zu einem Rausch führen. CBD-haltige Präparate hingegen gelten als nicht berauschend. In der medizinischen Anwendung wird die Dosierung so gewählt, dass der therapeutische Nutzen im Vordergrund steht.
[1] Glaeske, G., & Sauer, K. (2018). Cannabis-Report 2018. Medizinische Beratung: C. Maier. Unter Mitarbeit von E. Durakovic, F. Höfel, L. Jespersen & L. Richter. Erstellt mit freundlicher Unterstützung der Techniker Krankenkasse (TK). Universität Bremen, SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik.
[2] Whiting, P. F., Wolff, R. F., Deshpande, S., Di Nisio, M., Duffy, S., Hernandez, A. V., Keurentjes, J. C., Lang, S., Misso, K., Ryder, S., Schmidlkofer, S., Westwood, M., & Kleijnen, J. (2015). Cannabinoids for medical use: A systematic review and meta-analysis. JAMA, 313(24), 2456–2473.
[3] Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). (2022). Abschlussbericht der Begleiterhebung nach § 31 Absatz 6 SGB V zur Verschreibung und Anwendung von Cannabisarzneimitteln.
[4] Jylkkä, J., Hupli, A., Nikolaeva, A., Tiihonen, J., & Hakkarainen, P. (2023). The holistic effects of medical cannabis compared to opioids on pain experience in Finnish patients with chronic pain. Journal of Cannabis Research, 5(1), 38.
[5] Hagenbach, U., Luz, S., Ghafoor, N., Hepp, U., Berger, C., Grotenhermen, F., Brenneisen, R., & Schanz, U. (2007). The treatment of spasticity with Δ⁹-tetrahydrocannabinol in persons with spinal cord injury. Spinal Cord, 45(8), 551–562.
[6] Kirkham, T. C. (2009). Cannabinoids and appetite: Food craving and food pleasure. International Review of Psychiatry, 21(2), 163–171.
[7] Atalay, S., Jarocka-Karpowicz, I., & Skrzydlewska, E. (2019). Antioxidative and anti-inflammatory properties of cannabidiol. Antioxidants (Basel), 9(1), 21.
[8] Blessing, E. M., Steenkamp, M. M., Manzanares, J., & Marmar, C. R. (2015). Cannabidiol as a potential treatment for anxiety disorders. Neurotherapeutics, 12(4), 825–836.